Gekommen, um zu bleiben
Die glücklichsten Menschen der Welt leben in Skandinavien. Nordkapp-Reisende können sich auf der langen Tour ausgiebig davon überzeugen. Vielleicht ergeht es dem einen oder anderen dann wie der Schweizerin Sara Utvaag Gass: Sie blieb im hohen Norden und lebt seit über 30 Jahren in Norwegen.
Wenn Sara Utvaag Gass über Norwegen spricht, funkeln ihre Augen. Auch nach über 30 Jahren. «Ich liebe dieses Land. Und ich werde niemals in die Schweiz zurückkehren.» Nicht, weil sie die Schweiz nicht mag, ganz im Gegenteil. Die 52-Jährige freut sich immer auf ihre Schweiz-Besuche, auf die alten Schulfreunde. Sie versucht auch immer wieder Schweizer und Deutsches Fernsehen zu schauen, der Sprache wegen. Denn ab und zu muss Sara schon nach den deutschen Wörtern suchen. Was fasziniert sie denn so an Norwegen? Natürlich die fantastische Natur, die Fjorde. «Aber bitte nicht falsch verstehen, wir Norweger paddeln nicht den ganzen Tag in diesen Fjorden herum und fangen Fische», sagt Sara Utvaag Gass und lacht. «Schliesslich besteht ja auch die Schweiz nicht nur aus Bergen.» Nein, es ist natürlich die moderne, nordische Lebensart. Es sind die Menschen.
Einen grossen und vielschichtigen Eindruck erhalten die Reisenden, wenn sie die klassische, grosse Tour durch Skandinavien machen. Die Hinfahrt über Dänemark und Schweden, mit der Fähre hinüber nach Finnland, rauf ans Nordkap und dann über Norwegen zurück. Es ist eine lange Strecke, die im Bus zurückgelegt wird, rund 4’500 Kilometer, aber eine erlebnisreiche und oft einfach auch eine entspannende. Auf den Strassen Skandinaviens unterwegs zu sein, ist nicht vergleichbar mit der Hektik Mitteleuropas. Fahren in Skandinavien ist Freiheit. Man rollt absolut stressfrei über die Strassen und kann diese wunderschönen Landschaften geniessen.
Die Naturerlebnisse stehen denn auch im Vordergrund dieser Reise. Zuerst die weiten Flächen Dänemarks, die lieblichen und romantischen Landschaften Südschwedens, danach die Tausenden von Seen in Finnland, die kargen Gegenden ganz im Norden und schliesslich die imposanten Fjorde Norwegens. Rentiere, Elche, vielleicht wird sogar mal ein Bär oder Wolf gesichtet.
«Die Menschen hier sind generell sehr mit der Natur verbunden», sagt die Schweizer Auswanderin Sara Utvaag Gass. «Auch diejenigen, die in den grossen Städten leben.» An den Wochenenden packen die Nordländer gerne ihre sieben Sachen ins Auto und fahren in ihr Ferienhäuschen an einem See, vielleicht am Meer oder gar irgendwo im Wald. Dort geniesst man die Zeit mit der Familie, mit Freunden oder einfach auch mal ganz mit sich alleine – und der Natur. Auch Sara Utvaag Gass ist gerne in der Natur. Sie hat für sich das rauere Klima des Nordens entdeckt. Zuerst lebte sie nämlich lange Zeit im Süden Norwegens, erst später zog sie weiter nach Norden, nach Trondheim, mit rund 191’000 Einwohnern die drittgrösste Stadt Norwegens. «Nun bin ich endgültig zu Hause angekommen.» In ihrer Freizeit reist sie gerne noch weiter nach Norden Richtung Polarkreis. «Da gibt es auch im Hochsommer nur selten Hitze», sagt Sara lachend. Und für die Beschreibung der Landschaften findet sie nur ein einziges Wort: «Wow!»
Dass da oben die Tage in den Sommermonaten lang sind, geniesst sie natürlich genauso wie die vielen Touristen. Aber wie kommt sie mit der dunklen Winterzeit zurecht, die – ausser von Schneeverrückten und Polarlichtsuchenden – von den Fremden gemieden wird? «Das ist schon sehr gewöhnungsbedürftig», sagt Sara. «Ich brauchte zwei Jahre lang. Denn bei uns in Trondheim wird es bereits um 15 Uhr dunkel und erst gegen 9 Uhr wieder hell. Und wenn meine Schweizer Freunde am Telefon erzählen, dass bei ihnen der Frühling beginnt, liegt bei uns noch Schnee. Aber dann ist es auch umso schöner, wenn der Schnee schmilzt und das Land wieder in dieses wunderbare nordische Licht getaucht wird.»
Die Naturverbundenheit der Menschen ist natürlich ganz oben in Lappland am Offensichtlichsten, in jenem riesigen Gebiet, zu dem auch ein Teil Russlands gehört. Das Volk der Samen lebt und kämpft dort seit Urzeiten mit den Naturgewalten. Aber auch immer für seine Anerkennung. Die Samen haben zwar ein länderübergreifendes Parlament, doch ihre politischen Rechte und Einflüsse in den jeweiligen Ländern sind äusserst unterschiedlich. Am meisten Rechte geniessen die Samen in Norwegen. Was nicht erstaunt: Norwegen gehört laut Statistiken zu den fortschrittlichsten und demokratischsten Ländern der Welt. Und hier leben die glücklichsten Menschen: Im World Happiness Report der Uno belegen die Norweger immer einen der ersten Plätze, gefolgt von den anderen nordeuropäischen Ländern und – der Schweiz. Besonders zufrieden seien auch jene Menschen, die nach Norwegen ausgewandert sind. Ein gutes Beispiel dafür ist Sara Utvaag Gass.
Es sind natürlich auch die Vorzüge und Annehmlichkeiten des Sozialstaates, die zu diesem Ergebnis führen. Aber eben nicht nur, denn Arbeiten muss man in Norwegen auch. Und dies nicht zu knapp. Norwegen ist teuer. Die Schweizer dürften die einzigen Fremden sein, die beim Bezahlen im Supermarkt oder im Restaurant nicht nach Luft schnappen, denn schliesslich sind wir – wie Norwegen nicht Mitglied der EU – hohe Preise gewohnt.
Äusserst ungewohnt dagegen ist, dass die Norweger längst nicht so an ihrer Währung, den Norwegischen Kronen, hängen wie die Schweizer am Franken: «Bargeld?», fragt Sara Utvaag Gass. «Nein, das brauche ich nicht mehr.» Man bezahlt mit Kreditkarte, selbst Kleinstbeträge. Oder mit dem Smartphone. Auch untereinander. «Wenn eine Freundin für mich etwas besorgt, dann vippse ich ihr den Betrag einfach rüber.» Vippsen? Das kommt von VIPP, was eine Bezahl-App fürs Handy ist, mit dem der tägliche Zahlungsverkehr geregelt wird.
Richtig zum Glühen gerät die VIPP-App oder die Kreditkarte beim Kauf von alkoholischen Getränken. Bier, Wein und Schnaps gibt es nämlich nur in staatlichen Läden zu kaufen, nur zu gewissen Zeiten und wegen der hohen Steuer zu horrenden Preisen. Es wird trotzdem gerne und viel getrunken. Wer sich aus Kostengründen nicht in einem der staatlichen Alkoholläden «Vinmonopelt» eindecken will, organisiert die Getränke beispielsweise auf einem Ausflug nach Schweden, wo Alkohol ein bisschen billiger ist. Oder er gönnt sich eine Minikreuzfahrt nach Deutschland und deckt sich auf dem Schiff noch viel günstiger ein.
Wer zu einem Grillfest einlädt und sich dabei nicht ruinieren will, bittet seine Gäste nicht wie in der Schweiz um Mitnahme des eigenen Grillguts, sondern um das Anschleppen des Biers. Für Junge, die gerne in Clubs abfeiern, ist es noch ein wenig kniffliger, da sich kaum einer mehr als ein oder zwei Bier an der Bar leisten kann. Doch auch da sind die Norwegerinnen und Norweger erfinderisch: «Man macht ein sogenanntes Vorspiel», sagt Sara Utvaag Gass schmunzelnd. Vorspiel? Nein, trotz ihren Deutsch-Wortlücken – hier meint Sara das, was sie sagt. «Für das norwegische Vorspiel verwendet man tatsächlich das deutsche Wort.» Vorspiel hat in Norwegen aber nichts mit Sex zu tun. «Vorspiel bedeutet Vorglühen», erläutert Sara. «Man trifft sich vor dem Ausgang irgendwo privat zum Trinken.» Im Norwegischen gibt es auch noch das deutsche Wort Nachspiel. Wiederum ist damit nichts Sexuelles gemeint. Zum Nachspiel trifft man sich nach dem Ausgang. Ebenfalls zum Trinken.