Dordogne – märchenhaft und geheimnisvoll

In der Dordogne zieht das Leben gemächlich hin: Zwischen jahrtausendealten Wandzeichnungen und sagenumwobenen Kapellen erinnert sie unentwegt an Vergangenes. Rolf Hürzeler berichtet in der «Schweizer Familie» von dieser ursprünglichen Gegend, in der sich Kalksteinformationen gen Himmel türmen.

 

Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit unserem Partner Schweizer Familie. Originalbericht «Zum Bleiben schön» erschienen in: «Schweizer Familie» 38, 2020.

Text: Rolf Hürzeler / Schweizer Familie 

Fotos: Jorma Müller / Schweizer Familie

 

Die Augustsonne bringt die üppigen Landschaften der Dordogne zum Leuchten. Felder mit goldgelben Sonnenblumen, Gemüse in allen Grün­tönen, dichte Pinien-und dunkle Eichen­wälder prägen das Bild der Idylle. Unter­brochen wird diese blühende Fülle der Natur von Kalksteinformationen, die sich wie mächtige Skulpturen gen Himmel tür­men und der Gegend etwas Archaisches, Geheimnisvolles verleihen. Dazwischen schlängelt sich die Dordogne durch das gleichnamige Département im Südwesten Frankreichs. Träge zieht sich der Fluss in der Sonne dahin; mitunter hat man den Eindruck, das Wasser stehe still. Weite Uferbänke ragen aus dem Wasser und zeugen vom Geröll, das der Fluss als täg­liche Last zu seiner Schwester Garonne mit sich schleppt, mit der vereint er Rich­tung Atlantik fliesst.

Inmitten dieser ursprünglichen Land­schaft, in einem der Eichenwälder, wo Wildschweine und Rehe leben, liegt ein Schatz verborgen, der über 14'000 Jahre alt ist. Es ist die Höhle von Rouffignac, dessen Höllenschlund dem Besucher prä­historische Zeichnungen offenbart. Unsere Vorfahren malten in unterirdischen Grotten kunstvolle Mammute an die Felswände. Vielleicht, weil ihnen die zotteli­gen Tiere so gut gefielen, vielleicht weil sie ihnen eine Ehre erweisen wollten, da sie sie jagten und sich von ihrem Fleisch ernährten.

Der moderne Höhlenmensch von Rouffignac heisst Jean Plassard, 69. Er ist der Besitzer der Höhle und kennt sie wie seine Westentasche. Sein Grossvater habe das Potenzial dieser unterirdischen Gänge vor mehr als 50 Jahren erkannt und sie bereits damals erforscht. Die Besitzerfamilie hat sie nun mit einem Elektrobähnli für die Besucher zugänglich gemacht, die dort mit viel «Ah» und «Oh» die Mammutzeichnungen bewundern können. Auch Bären sind neben anderen Tierarten vereinzelt an den Wänden zu sehen. 

Zurück im Tageslicht, müssen sich die Augen zuerst an die Helligkeit gewöhnen, bevor die Autofahrt weiterführt ins mittelalterliche Städtchen Sarlat. Auf den ersten Blick umschliessen die historischen Gebäude des Ortes lediglich den grossen Platz der Freiheit, die Place de la Liberté. Doch es lohnt sich, die zahlreichen Nebengassen zu erkunden, rund um die Stadtkirche. Der Bummel erweist sich als eine kleine Lektion in französischer Architekturgeschichte: vom frühen Mittelalter über die Gotik bis zum repräsentativen Barock. Es ist, als wollten die Menschen jeder Epoche in Sarlat ihr bauliches Denkmal setzen, auf dass die Touristen mit der gleichen Bewunderung an sie zurückdenken wie an die Höhlenmaler in Rouffignac. 

 

Fröhliche Stimmung auf dem Markt

Viele besuchen den Ort samstags, um am Wochenmarkt einzukaufen. Dann wird es im sonst so beschaulichen Ort laut und fröhlich, umso mehr, wenn das einheimische Original Philippe Montet, 59, seinen Auftritt hat. Seit Jahrzehnten verkauft er nur Knoblauch und Zwiebeln, diese dafür in allen Varianten. Wie ein Marktschreier preist er aus voller Kehle seine violetten Knoblauchzehen an, die schärfer seien als die weissen und weit und breit am besten schmeckten. Seine Worte überzeugen, die Kunden scharen sich um seinen Stand und decken sich mit dem stark duftenden Gewächs ein, als ob es demnächst rationiert würde.


Unweit von Sarlat, im Dorf Les Eyzies, lebt die junge Schweizerin Michela Thomann, die einen eigenen Bauernhof mit 20 Hektaren bewirtschaftet und eine kleine Arche Noah hält. Unter all den Tieren fallen vier friedfertige Lamas auf und die liebenswürdige Sau Louise, die so anhänglich ist wie ein Schosshündchen nach zwei Wochen Liebesentzug. Thomann ist in der Dordogne aufgewachsen, weil ihre Eltern diese Region in jungen Jahren entdeckt hatten und von ihr so begeistert waren, dass sie hierher auswanderten. «Das Leben in der Dordogne ist freier, dafür härter als in einer Schweizer Stadt», sagt die 32-Jährige mit der Ausstrahlung einer unerschrockenen Macherin. Sie schätze es, dass der tägliche Rhythmus ruhiger sei: «Die Leute haben hier noch mehr Zeit.» Thomann führt im Sommer vereinzelt Touristengruppen durch die Dordogne, um ihnen diejenigen Ecken zu zeigen, die nicht in jedem Reiseführer stehen. 

 

Bruno-Krimis spielen in Le Bugue 

Zum Beispiel das Städtchen Le Bugue, dessen Name kaum einer kennt, das aber allen Krimifans als Saint-Denis vertraut ist. Denn so nennt der schottische Schriftsteller Martin Walker seinen Wohnort in den Romanen, von wo aus sein fiktiver Ermittler Bruno Courrèges dem Verbrechen auf der Spur ist. Le Bugue selbst ist ein verschlafener Ort; es empfiehlt sich indes ein Besuch in der Weinhandlung Julien de Savignac, die Julien Montfort, 41, und seine Partnerin Caline Sokolow, 43, führen. Sie bieten eine schier unendliche Auswahl an Flaschen lokaler Weine und Spirituosen an, besonders aus dem benachbarten Anbaugebiet Bergerac. 
 

Nach einer Degustation von guten Weinen mit Brot und Käse steht ein weiterer Höhepunkt an auf einer Reise durch die Dordogne: die berühmten Höhlen von Lascaux, die zum Unesco-Welterbe gehören. Die Wandzeichnungen von Lascaux sind älter als 16 000 Jahre und zieren lange Gänge und mächtige Hallen. Alle unterirdisch als Labyrinth angelegt. Anstelle der Mammute von Rouffignac mochten die Künstler hier vor allem Pferde, die sie in allen erdenklichen Formen an die Wände zeichneten, als ob es damals bereits einen prähistorischen Concours gegeben hätte. Schade nur, dass einem die Originale verwehrt bleiben. Denn der immense Besucherandrang seit der Entdeckung von Lascaux im Zweiten Weltkrieg drohte die Zeichnungen zu zerstören. Darum schlossen die französischen Behörden die Höhlen für die Öffentlichkeit, die aber in einer grosszügig rekonstruierten Anlage mit allen Zeichnungen entschädigt wird. Eine kundige Expertin führt die Besucher durch die ausgedehnten Museumsräumlichkeiten, die einen etwas ins Grübeln bringen: Warum nur haben die prähistorischen Künstler ihre Wandmalereien so gut versteckt hinterlassen, wo sie während Jahrtausenden niemand entdeckte? Man wird es nie erfahren.

Genauso bleibt das Wunder des Wallfahrtsorts Rocamadour ein unlösbares Rätsel. Mitte des 12. Jahrhunderts soll vor der Kapelle Notre Dame der unversehrte Leichnam des Einsiedlers Amadour gefunden worden sein. Seither pilgern die Menschen an den Ort, weil er zur Genesung unheilbarer Krankheiten beitragen soll. Wahr oder nicht, der Gang durch das sakrale Gemäuer, eingebaut in einen Felsen, ist atemberaubend. Man erlebt eine spektakuläre Aussicht über ein zerklüftetes Tal und kann gut verstehen, warum der Einsiedler gerade hier leben wollte. Bei aller Entsagung des Irdischen sollte doch wenigstens der tägliche Ausblick ein erfrischendes Vergnügen bereiten.

 

Zu famosem Ziegenkäse pilgern 

Vom Wallfahrtsort fährt man heutzutage mit einem Lift hinunter ins Dorf Rocamadour, das aus einer Hauptstrasse mit zahlreichen Läden besteht, wo der berühmte Ziegenkäse Cabécou de Rocamadour angeboten wird, wobei von Geissen nichts zu sehen ist, da die Tiere zwischen Felsen versteckt grasen und sich wohl ins Bärtli lachen, weil alle vergeblich nach ihnen suchen. Ein Pilgerort der ganz anderen Art sind die Gärten von Marqueyssac, ein Anziehungsort für alle Naturliebhaber. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird hier der Buchsbaum gepflegt in allen erdenklichen Varianten. Der Gartenchef Jean Lemoussu, 50, empfängt den Besucher und führt ihn durch die Gartengassen: «Sie finden hier unzählige Formen der gleichen Pflanze», erklärt er und fügt an: «Jeder Strauch ist eine individuelle Erscheinung, als hätte er eine eigene Persönlichkeit.» Deshalb fühlt sich Monsieur Lemoussu ausgesprochen wohl in diesem weitläufigen Garten, und man bekommt leicht den Eindruck, dass er seinen Lockenkopf dem Schnitt der Pflanzen angepasst hat. Ein halbstündiger Spaziergang führt durch das Buchsbaumparadies zum Aussichtspunkt Belvédère, der den Blick über die Weite des Dordogne-Tals freigibt. Bei dieser Szenerie möchte man dem Siedler Amadour im Nachhinein gerne sagen, dass er seine Zelte auch hier hätte aufschlagen können. Gleich gegenüber auf der anderen Talseite erhebt sich die Burg Castelnaud. Ihr geschichtliches Verdienst ist es, dass sie die sprichwörtliche Liebe zwischen Franzosen und Engländern vertiefte. Diese schlugen sich einander in diesen Landstrichen im 14. und 15. Jahrhundert die Köpfe ein, was als Hundertjähriger Krieg in die Geschichte eingegangen ist. 

Altes Kunsthandwerk entdecken 

Die derzeitigen Schlossbesitzer zeigen den Besuchern in gepflegter Kulisse, wie die schicken Chevaliers und ihre aparten Burgfrauen früher zu leben pflegten. Sei es in den Gemächern oder in der Küche, wo Köche die Rehrücken in einem grandiosen Cheminée brieten. Ein anderes Feuer hat der virtuose Schmied Florian Baroud, entfacht. Er demonstriert dem Publikum, wie die Handwerker früher kunstvoll Speerspitzen für ihre Pfeile fertigten, um das Wild oder die Engländer zu jagen. Heutzutage ist alles viel friedfertiger. Familien bevölkern die Schlossanlage und breiten sich mit ihren Picknicks aus, ein bisschen so, wie das wohl die Höhlenbewohner der Dordogne in den Eichenwäldern vor einigen tausend Jahren zu tun beliebten.

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